AERZTE Steiermark 03/2023
Polypharmazie: „Ab neun Verschreibungen leiden alle“
Mit steigender Lebenserwartung nehmen die Jahre in Multimorbidität zu. Durch entsprechende Medikamenten-Verschreibungen wächst das Risiko für Wechsel- und Nebenwirkungen. Mit ihrem „Seminar im März“ wollen die Pharmazeutin Ingrid Friedl und der Geriater Gerhard Wirnsberger Awareness für die Problematik schaffen.
Ab fünf gleichzeitigen Arzneimittel-Verschreibungen findet sich statistisch signifikant ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Medikamenteninteraktionen. „Ab neun Verschreibungen leiden praktisch alle Patient:innen unter einer unbeabsichtigten Wirkung“, betont der Nephrologe und Geriater Gerhard Wirnsberger von der Universitätsklinik für Innere Medizin am Grazer Klinikum.
Zudem kommt es bei Multimedikation auch zu Verschreibungskaskaden, wie Ingrid Friedl, Leiterin der Anstaltsapotheke am LKH Graz II, erklärt: „Nicht immer werden die Symptome unerwünschter Arzneimittelereignisse als solche erkannt. Treten bei alten Menschen Schwindel, Müdigkeit, Verwirrtheit oder Unruhezustände auf, werden sie oft als eigenständiges Symptom wahrgenommen und es wird ein weiteres Medikament dagegen verschrieben.“ Um Ärztinnen und Ärzte für die Problematik zu sensibilisieren, gestalten Ingrid Friedl und Gerhard Wirnsberger miteinander ein „Seminar im März“ zum Thema Multimedikation bei älteren Patient:innen.
Was die Alten besonders macht
Polypharmazie ist – unabhängig von ihrer Definition – bei alten Menschen sehr häufig. Das Risiko für unerwünschte Ereignisse korreliert nicht nur mit der Anzahl der Erkrankungen, sondern ist auch die Folge einer geänderten Physiologie im Alter. Zehn Prozent der Bevölkerung konsumieren rund 40 Prozent der rezeptpflichtigen Arzneimittelverschreibungen und je nach Studie schlucken 75 bis 95 Prozent der Patient:innen ab 65 mindestens fünf Präparate. In der Regel wird in Zulassungsstudien die Pharmakokinetik eines Präparates bei jüngeren Patient:innen erhoben. „Nur bei vier von wohl tausend Studien zu Antihypertensiva sind bewusst Patient:innen ab 65 inkludiert worden“, berichtet Wirnsberger. „Verschrieben werden diese Präparate überwiegend in dieser Altersgruppe.“
Sämtliche pharmakokinetischen Prozesse verändern sich mit zunehmendem Alter: Durch verminderte Magenmotilität und Darmperistaltik, aber auch durch verringerte Magensäureproduktion verändert sich die Absorption. Die Verteilung des Präparates variiert je nach Körperzusammensetzung und wird durch einen höheren Körperfettanteil bei gleichzeitiger Verminderung des Körperwassers im Alter stark beeinflusst. Die reduzierte Leberdurchblutung in späteren Lebensjahren, aber auch die eingeschränkte Nierenfunktion führen zu verändertem Abbau der Wirkstoffe und zu unbeabsichtigter Kumulation durch eine reduzierte Ausscheidung. Speziell beim Einsatz von stark eiweißgebundenen Medikamenten, die rund 80 Prozent der Verschreibungen ausmachen, sollte man besondere Vorsicht walten lassen, da viele ältere Menschen an einer Eiweißmalnutrition leiden, wodurch das Risiko für eine Sarkopenie und letztendlich für Stürze steigt. Insbesondere Protonenpumpenhemmer, die meistens als „Magenschutz“ verschrieben werden, haben einen negativen Einfluss auf die Eiweißverdauung. Auch die häufig verschriebenen Thiaziddiuretika erhöhen signifikant über eine sekundäre Hyponatriämie das Sturz- und damit das Sterberisiko.
Steigendes Risiko
Aufgrund der erhöhten Wahrscheinlichkeit für Multimorbidität im Alter steigt auch die Multimedikation und damit das Auftreten möglicher klinisch relevanter Arzneimittelinteraktionen. „Sinnvoll ist daher nicht die unbedingte Reduktion von Arzneimitteln, sondern der gezielte patientenindividuelle Einsatz“, erläutert Friedl. „Es muss ein klares Therapieziel definiert werden“, fordert auch Wirnsberger. „Und dieses muss regelmäßig überprüft werden – im Sinne eines Advance Care Plannings.“
Als Voraussetzung für eine durchdachte Medikamentenreduktion sind Ärzt:innen oder Pharmazeut:innen gefragt, die den Überblick über sämtliche Präparate haben, die jemand einnimmt. Nicht nur über die ärztlich verschriebenen Arzneimittel, sondern auch über OTC-Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel und selbst über regelmäßig getrunkene Heilkräutertees. „Es muss sich jemand drübertrauen, einen Strich in der Medikamentenverschreibung zu ziehen“, fordert Wirnsberger. „Das wird in der Regel der Hausarzt oder die Hausärztin sein, aber es kann auch jeder andere ,Arzt des Vertrauens´ diese Aufgabe erfüllen.“ Wenn derjenige oder diejenige die Zeit dafür findet.
Listen heranziehen
Als Unterstützungssysteme dienen sehr gut im klinischen Alltag etablierte Tools. Dazu gehören Listen von sogenannten PIMs (potentiell inadäquate Medikationen), deren Verschreibung a priori für ältere Patient:innen ein signifikant höheres Risiko darstellt. Die Auswahl altersadäquater Medikamente muss über potentielle Wechselwirkungen hinaus die Darreichungsform berücksichtigen: Wer schon Schluckstörungen hat, wird nicht dreimal täglich eine große Kapsel schlucken. Je schwieriger die Einnahmen und je komplexer das Einnahmeschema, desto mehr wird die Compliance darunter leiden. Neben eventuell vorhandenen kognitiven Beeinträchtigungen sind bei der Arzneimittelgestaltung und deren Verpackung Sehschwächen und feinmotorische Einschränkungen und die erwähnten Schluckprobleme zu beachten.
Neben Negativ- und Positivlisten (PIM, START-STOPP, FORTA) gibt es noch andere hilfreiche Tools, die Verordnung des geriatrischen Patienten zu optimieren, wie den Medication Appropriateness Index (MAI). Mit seiner Hilfe lässt sich anhand von zehn Fragen überprüfen, inwieweit die derzeitige Medikation noch sinnvoll ist und wo sich ein Ansatzpunkt für Reduktion und/oder Verbesserung findet.
Vorsichtig ausschleichen
Der MA-Index beginnt gleich mit der Frage, ob es überhaupt noch eine Diagnose zum verschriebenen Medikament gibt, hinterfragt die altersgerechte Dosierung, die Möglichkeit von Doppelverordnungen und Arzneimittelinteraktionen. Risikoreiche Medikamente können nicht immer einfach weggelassen werden, aber manchmal hilft auch schon der Umstieg auf ein alternatives Präparat. „Im Schnitt kann man bei multimorbiden Patientinnen und Patienten jedes dritte Arzneimittel weglassen“, so Wirnsberger. „Wichtig ist aber, dass man Medikamente immer vorsichtig ausschleicht.“
Die Grundmaxime seines Vorgehens entlehnt Wirnsberger beim US-amerikanischen Geriater Jerry Gurwitz, der einmal gesagt hat: Jedes Symptom eines geriatrischen Patienten sollte so lange als Medikamentennebenwirkung betrachtet werden, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Das Seminar „Multimedikation bei älteren Patient:innen“ findet am Montag, 27. März 2023, von 15.00 bis 18.00 Uhr in der Ärztekammer für Steiermark statt. Detailinformationen und Anmeldung unter www.seminareimmaerz.at . Teil des Seminars sind auch konkrete Fallanalysen.
Fotos: Adobe Stock, Fotoatelier Moser, Wiesner