AERZTE Steiermark 01/2023
(Un)Geimpft – und stolz darauf!?
Der Impfstatus gegen COVID 19 hat – anders als bei anderen Impfungen – bei zahlreichen Menschen zu einer starken Gruppenidentität geführt. Diese Vaccination Status Identification (VSI) ist laut einer in nature human behaviour veröffentlichten Studie eine wichtige Messgröße, um Reaktionen auf staatliche Impfstrategien vorherzusagen.
„The association between vaccination status identification and societal polarization“ heißt die Studie, die an den Universitäten von Bonn, Erfurt, Wien und Kopenhagen sowie dem Hamburger Bernhard Nocht Institut für Tropenmedizin von Luca Henkel und Philipp Sprengholz unter Supervision von Cornelia Betsch und Robert Böhm durchgeführt wurde. Mehr als 5.300 deutsche und österreichische Studienteilnehmer:innen wurden befragt; 3.267 Geimpfte und 2.038 nicht gegen COVID-19 Immunisierte.
Die drei Befragungswellen erstreckten sich über den Zeitraum von Ende 2021 bis Mitte 2022, einer Zeit, in der viele Staaten diverse Strategien zur Steigerung der Impfrate diskutierten.
Geimpfte Mitte
Unter den Geimpften war die Identifikation mit ihrem Impfstatus umso höher, je älter sie waren, je mehr Vertrauen sie in die Regierung hatten, je häufiger sie in etablierten Medien Informationen zu COVID-19 konsumierten, aber auch wenn ihnen wichtige Menschen geimpft waren oder die Personen annahmen, dass diese ihnen wichtigen Personen sich für die Impfung aussprachen. Am stärksten identifizierten sich Wähler:innen der politischen Mitte mit ihrem Status als Geimpfte.
Ungeimpfte waren umso stolzer auf ihren Impfstatus, je weniger sie der Regierung vertrauten, je eher sie eine Partei des rechten Flügels wählten, je weniger sie Impfen als übliches Verhalten wahrnahmen, je weniger Informationen sie aus klassischen Nachrichtenquellen bezogen und je mehr dafür aus den Sozialen Medien.
Je stärker die Identifikation mit dem eigenen Impfstatus, desto stärker wurde die Andersartigkeit der jeweils anderen Gruppe empfunden, womit es gerade unter diesen Gruppen zu sozialer Polarisation kam.
Tatsächlich diskriminiert
Impfen wird, so vorangegangene Studien, als eine Art Gesellschaftsvertrag empfunden, weshalb Geimpfte andere Geimpfte wohlwollender behandeln als Ungeimpfte. Dem entsprechend nahmen bereits im Dezember 2021 82 Prozent der Ungeimpften den gesellschaftlichen Diskurs rund um die Impfung als unfair, moralisierend und bevormundend wahr, während das nur 23 Prozent der Geimpften taten. Diese Wahrnehmung verschärfte sich zusätzlich bei jeweils intensiverer Identifikation mit dem Impfstatus.
Unabhängig von ihrer Identifikation mit dem Impfstatus nahmen Geimpfte sich im Alltag als wenig diskriminiert wahr. Bei den Ungeimpften aber fühlten sich jene deutlich mehr diskriminiert, bei denen die VSI stärker ausgeprägt war. Psychologische Experimente („dictator games“), in denen fiktiv Geld an Mitglieder derselben Gruppe verteilt wurde, zeigten ein ähnliches Verhalten bei Geimpften und Ungeimpften. Ging es aber darum, Mitgliedern der jeweils anderen Gruppe etwas zu geben, waren die Geimpften gnadenloser. Daraus schließen die Studienautoren, dass das Empfinden von Alltagsdiskriminierung unter Ungeimpften auch deren tatsächlichem Erleben entspricht.
Pflicht schafft Widerstand
Ein weiteres Experiment ließ die Proband:innen ihr Verhalten im Falle einer Impfpflicht antizipieren. Bei niedrigem VSI rechneten sowohl Geimpfte als auch Ungeimpfte mit durchaus merklicher eigener Reaktanz. Bei großer Identifikation mit dem Impfstatus war die erwartete Reaktanz bei den Ungeimpften noch deutlich größer, dafür bei den Geimpften kleiner. Die Reaktanz korrelierte auch mit der Bereitschaft, sich gegen Impfverpflichtungen zu engagieren, durch Petitionen, Demonstrationen oder Mobilisierung anderer Menschen für den Kampf gegen eine Impfpflicht.
Unemotionaler Diskurs
Auch wenn die Befragung nur eine relativ kleine Gruppe umfasste, die zudem etwas jünger und gebildeter war als der Bevölkerungsdurchschnitt, leiten die Studienautoren aus den Ergebnissen ab, welch wichtige Rolle die Vaccination Status Identification für individuelle Impfentscheidungen spielt, wie sehr die VSI aber auch Impfkampagnen behindern kann. Ungeimpfte zu diskriminieren könne wiederum zu einer noch stärkeren Identifikation mit deren Impfstatus führen.
Deeskalierend wirken könnten der faire Umgang mit Ungeimpften sowie ein unemotionaler Diskurs über die Impfung als simple Gesundheitsmaßnahme. Aber auch, so spekulieren die Studienautoren, eine Impfpflicht: Wenn jeder zur Impfung muss, ließe sich aus dem persönlichen Impfstatus kein individuelles Persönlichkeitsmerkmal mehr generieren, das verteidigt werden muss.
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