AERZTE Steiermark 05/2022
Rezepte gegen den Ärztemangel
Rezepte gegen den Ärztemangel gibt es viele. Aber welche funktionieren und welche nicht? Wir haben Expertinnen und Experten um ihre Einschätzung gebeten.
Die Ankündigung, an der privaten Wiener Sigmund-Freud-Universität im Rahmen eines speziellen Stipendienprogramms 20 Studienplätze für Mediziner*innen zu reservieren, die nach Studienabschluss bereit sind, zehn Jahre an einem steirischen Landeskrankenhaus zu arbeiten, löst bei ärztlichen Fachleuten Irritationen aus. Erstens kostet die Kooperation 150.000 Euro pro Absolvent*in. Zweitens werden die ersten fertigen Mediziner*innen frühestens in sechs Jahren zur Verfügung stehen. Und es sind nur 20, was angesichts von – jetzt – der KAGes jedenfalls mehr als 150 fehlenden Ärzt*innen ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Und diesen Tropfen wird es eben erst 2028 geben können. Die Kleine Zeitung sprach von einer „merkwürdigen Initiative“. „Es ist die teuerste Art, zusätzliche Ärzte zu requirieren“, kommentierte Redakteur Norbert Swoboda. Für Gesundheitslandesrätin Juliane Bogner-Strauß ist es hingegen „sehr erfreulich, dass wir neben den steirischen Ausbildungsmöglichkeiten nun auch mit dem Stipendienprogramm an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien einen weiteren starken Partner gewonnen haben“.
„Wir bilden nicht zu wenige Ärzte aus, sondern wir behalten zu wenige im System. Es muss also attraktiver werden, in der Steiermark eine Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin oder zum Facharzt zu machen und danach eine Ordination mit Kassenvertrag zu übernehmen“, gibt die Stradener Allgemeinmedizinerin und designierte Niedergelassenen-Kurienobmannstellvertreterin in der Ärztekammer Steiermark, Gudrun Zweiker, zu bedenken. „Das Problem sind die unattraktiven Arbeitsumfelder im Spital und den Kassenordinationen. Mehr Absolvent*innen führen daher zu keiner Abhilfe“, sekundiert auch Angestellten-Kurienversammlungsmitglied Gerhard Posch (seines Zeichens Assistenzarzt an der Urologie des LKH-Standorts Leoben und designierter Kurienobmann). Selbst ÖVP-Nationalratsabgeordneter Josef Smolle – selbst Arzt und früherer Meduni-Graz Rektor – ist skeptisch: „Für Ärzt*innen besteht ein europaweiter Arbeitsmarkt und Österreich ist bereits jetzt ‚Netto-Exporteur‘ ausgebildeter Mediziner*innen. Daher brauchen wir in erster Linie Maßnahmen, um die Absolvent*innen im Land zu halten“, sagt er. Stipendien, verbunden mit der Selbstverpflichtung der Absolvent*innen, etwa in einem öffentlichen Spital oder an einer kassenärztlichen Stelle anzudocken, lehnt er zwar nicht ab, betont aber, dass diese vorzugsweise über „Incentives für die Studierenden an öffentlichen Universitäten“ geregelt werden sollten. Auch Eiko Meister, der amtierende steirische Angestellten-Kurienobmann und Ärztekammer-Vizepräsident bis zum 18. Mai 2022, ist zurückhaltend: Ob „der Stipendienweg wirklich erfolgreich ist, bleibt offen. Was dagegen spricht, ist eine flexible Lebensplanung und -führung“, wendet er ein.
„Die Absolvent*innen im Land halten“ nennt auch der Betriebsratsvorsitzende an der Medizinischen Universität Graz, Internist und designierte Ärztekammerpräsident Michael Sacherer als wichtigstes Ziel.
Zusammengefasst: Die Erhöhung der Zahl der Studienplätze zur Linderung des Ärztemangels ist vor allem eine Maßnahme, der Landespolitiker*innen einiges abgewinnen können (dass der Bund die Kosten dafür zu tragen hat, sei der Ordnung halber angemerkt). Aber sie wird in Maßen kommen – aktuell gibt es knapp 1.600 Startplätze an den Medizin-Unis von Graz, Wien und Innsbruck sowie der Linzer Fakultät; 2028 sollen es 2.000 sein. Ob das hilft? Dass die Vorgangsweise ein wenig daran erinnert, Wassermangel dadurch entgegenzutreten, indem man immer mehr Wasser durch ein marodes Leitungsnetz pumpt statt die Lecks zu schließen, können auch wohlmeinende Expert*innen kaum negieren. Und: Lecks im Ärztesystem gibt es genug. Manche sind gesellschaftlich und nicht durch die Medizin bedingt, wie etwa die gesunkene Bereitschaft, ohne Rücksicht auf das Privatleben in der Arbeit aufzugehen. Manche Probleme sind aber sehr wohl Medizinsystem-bedingt. Wenn fast vier von zehn Medizin-Absolvent*innen nie in der österreichischen Gesundheitsversorgung ankommen (so eine Statistik des Bundesrechnungshofs), wenn Ärzt*innen in Ausbildung laut einer Ärztekammerumfrage sich mehr als ein Drittel ihrer Arbeitszeit mit Verwaltungsaufgaben herumschlagen müssen statt Patient*innen zu betreuen, zeigt sich das Kernproblem: Es mangelt nicht an ärztlichen Köpfen, es mangelt an ärztlicher Arbeitszeit, die erkennbar der Bevölkerung zugutekommt.
Susanne Rabady und Stephanie Poggenburg (Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin, ÖGAM) formulieren es so: „Das Problem besteht nicht darin, dass es zu wenig Interesse am Medizinstudium gibt, immerhin bewerben sich zwölf Personen auf einen Studienplatz. Daher ist damit zu rechnen, dass bei weiterer Erhöhung der Studienplätze der gleiche prozentuale Anteil der Studierenden nach dem Studium auch nicht im österreichischen Gesundheitssystem bleibt. Dies erzeugt nur weitere immense Kosten, wenn man bedenkt, dass ein Medizinstudium ungefähr Kosten von einer halben Million Euro verursacht.“
Auch Vinzenz Harrer und Josef Harb, die steirischen ÖGK-Landesstellenausschuss-Vorsitzenden, sehen das Problem: „Grundsätzlich haben wir nicht zu wenige Ärzte in Österreich, sondern zu wenige Ärzte, die im öffentlichen Gesundheitssystem arbeiten. Unsere Bemühungen müssen in diese Richtung gehen, dass diese versorgungswirksam werden.“ Dennoch wollen sie mehr Studienplätze: „Die Anzahl … zu erhöhen wäre aber jedenfalls wünschenswert, um den gesunden ‚Wettbewerb‘ um Kassenstellen wieder anzuregen.“
Richard Brodnik, der Obmann der Jungen Allgemeinmedizin, bezeichnet die Erhöhung der Studienplatz-Zahl als „extrem ineffizient“. Es müssten Ausbildungsqualität und die Arbeitsbedingungen in der Niederlassung attraktiviert werden, „damit diese Personen auch versorgungswirksam tätig werden und nicht ins Ausland oder in die Privatmedizin flüchten“.
Die ebenfalls in der Jungen Allgemeinmedizin aktive Hartberger Kassenärztin Reingard Glehr hält nur eine Erhöhung um zehn Prozent für „sinnvoll“. Darüber hinaus würde „die Ausbildungsqualität durch eine notwendige Studierenden-Gruppenvergrößerung bei Lehreinheiten wahrscheinlich sinken“. Außerdem löse die Erhöhung der Zahl der Studienplätze keines der Strukturprobleme (z. B. Überversorgung in Ballungsgebieten, zu wenig Ärzt*innen im ländlichen Bereich, viele Fach- und zu wenige Allgemeinärzt*innen), gibt sie zu bedenken.
Einen wichtigen Aspekt bringt Allgemeinmedizin-Obmann Alexander Moussa ein. Mehr Studienplätze lehnt er zwar strikt ab, „aber die Selektionsmechanismen zu Beginn des Studiums, sollten modifiziert werden, um den Kadergedanken zu reduzieren und die intrinsisch humanistisch-ärztliche Grundhaltung sowie Motivation zum ärztlichen Beruf wieder zu schärfen!“
Und Stipendien? Hier will das Land Steiermark über den Gesundheitsfonds ja neun Millionen Euro bereitstellen. Die ärztlichen Fachleute halten das weitgehend für eine Fehlinvestition: „Die wirkliche Problematik besteht darin, dass die Arbeit im öffentlichen Gesundheitssystem (Krankenhaus, Kassenstelle) so unattraktiv (gemacht) worden ist, dass junge Kolleg*innen andere Arbeitsmöglichkeiten bzw. die Arbeit in anderen Ländern bevorzugen“, warnen ÖGAM-Präsidentin Rabady und Präsidiumsmitglied Poggenburg. Harb und Harrer befürworten dagegen Stipendien, „insbesondere auch die Schaffung von bevorzugten Studienplätzen für jene Studierenden, die sich verpflichten, eine bestimmte Zeit im öffentlichen Gesundheitswesen zu arbeiten, insbesondere eine Kassenstelle anzunehmen“. Eine klare Ablehnung kommt von JAMÖ-Obmann Brodnig: „Solche Verpflichtungen haben immer Möglichkeiten zum Ausstieg und das würden Personen ausnutzen. Außerdem kann ein*e Studienanfänger*in oft einfach noch nicht sagen, welches Fachgebiet ihn/sie interessiert.“
„Was geschieht mit denen, die sich statt zur Erfüllung der Stipendienkriterien doch für ein Leben in der Stadt oder im Ausland entscheiden?“, fragt Glehr und schließt an: „Mehr Landärzt*innen wird es erst geben, wenn diese für ihre Arbeit bessere Bedingungen bekommen.“
Der amtierende steirische Ärztekammerpräsident Herwig Lindner bezeichnet die aktuelle Stipendienübereinkunft mit einer Wiener Privatuniversität als „Panikvereinbarung“. Besser wäre es gewesen, die Kooperation mit der Medizinischen Universität Graz zu vereinbaren und dafür zu sorgen, dass das Steuergeld in Graz bleibt.
Bürokratie
Wie aber kann man die Attraktivität der Arbeit im öffentlichen Gesundheitssystem wieder steigern? Der Schlüssel scheint für nicht wenige die Bürokratie zu sein. Der Abbau ist für Zweiker „definitiv ein besonders wichtiges Ziel“. Die Allgemeinmedizinerin hat auch konkrete Vorschläge: „Anzustreben wäre eine diesbezügliche Servicefunktion der Ärztekammer, aber auch der Partner im Gesundheitssystem – Krankenhäuser, Kassen –, die im Allgemeinen einen großen bürokratischen Staff haben, der große Anforderungen stellt, aber für die Niedergelassenen mehr Hilfestellungen bieten könnte.“
Ähnlich Rabady und Poggenburg: „Die zunehmende Bürokratisierung ist sicher einer Herausforderung, sicher aber zu Teilen auch notwendig. Wünschenswert wäre eine Unterstützung bei bürokratischen Arbeiten, auch im Hinblick auf die Kommunikation mit den Sozialversicherungsträgern. Unterstützung, wie dies in den PVEs durch Manager erfolgt, sind sicher für alle Praxisformen wünschenswert“, sagen sie. Posch andererseits kritisiert Infrastrukturmängel, „zum Beispiel fehlende Stationssekretariate“.
Anders sehen das die ÖGK-Landesstellenausschuss-Vorsitzenden Josef Harb und Vinzenz Harrer: „Die Bürokratie in einer Kassenpraxis wird gemeinhin überschätzt. Durch e-card, elektronische Krankschreibung und die automatisierte Abrechnung ist die Verwaltungstätigkeit in einer Kassenpraxis längst nicht so hoch wie früher. Insbesondere die finanzielle Abwicklung ist deutlich weniger aufwändig als in einer Wahlarzt-Ordination. Interessant ist auch, dass die Personen in Kassenarztordinationen, die diese so überbordend dargestellte Bürokratie erledigen – das sind aber meist nicht die Ärztinnen und Ärzte! –, diese gar nicht so überbordend wahrnehmen, wie wir aus persönlichen Gesprächen wissen“, sagen sie. Auch für Kassenallgemeinmedizinerin Glehr ist die Bürokratie nicht der „Kern des Problems des Ärztemangels“. Richard Brodnig meint dagegen, der Bürokratieabbau attraktiviere die Arbeitsbedingungen „grundsätzlich“.
Ganz klar ist die Position von Arzt und Politiker Smolle. Für ihn ist der Bürokratieabbau „einer der wichtigsten Punkte“. „Wenn Organisation, Dokumentation und Qualitätssicherung einer medizinischen Tätigkeit mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Tätigkeit selbst, dann ist das nicht nur eine Vergeudung von Personalressourcen. Es macht auch die Arbeit weniger attraktiv und befriedigend, als wenn sich Ärztinnen und Ärzte den Großteil ihrer Arbeitszeit ihrer ureigensten Tätigkeit für die Patientinnen und Patienten widmen könnten“, argumentiert er.
„Die überbordenden Dokumentations- und Administrationsaufgaben, die den Mediziner*innen abverlangt werden, reduzieren die Attraktivität des Ärzt*innenberufs maßgeblich“, warnt auch der Rektor der Medizinischen Universität Graz, Hellmut Samonigg (siehe Kommentar KONTRA auf Seite 6). So bliebe real immer weniger Zeit für Patient*innen, „was die Berufsausübung in Österreich im Vergleich zum Ausland, in welchem derartige Aufgaben zunehmend von einer gesonderten Berufsgruppe übernommen werden, zusätzlich erschwert“.
Niemand habe etwas gegen notwendige Dokumentation und sinnvolle Verwaltung, betont auch Lindner. Aber: „Was zu viel ist, ist zu viel. Bürokratie verursacht Bürokratie – das besagt das Parkinson’sche Theorem“, sagt er. Und weiter: „Sinnlose Bürokratie gehört weg. Patientenferne Schreibtischtäter*innen wissen nicht, was notwendig ist und was nicht.“
Das Übermaß an Bürokratie sollte durch „mehr Service der Ärztekammer“ abgefedert werden, nimmt der künftige Ärztekammerpräsident Sacherer auch die eigene Institution in die Pflicht.
Bezahlung
„Zumindest sollte sichergestellt sein, dass Ärzt*innen aller Fachrichtungen gleiche Einkommensverhältnisse haben“, verlangen Rabady und Poggenburg. Solange Arbeitsfelder außerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems so viel attraktiver seien (und auch gemacht würden), werde das Problem weiter existieren. Meister ergänzt: „Zumindest innerhalb Österreichs sollten die Gehaltsansätze nahe beieinander liegen. Momentan geht die Schere aber weiter auf. Das Gehalt spielt immer eine Rolle bei Fragen der Attraktivität.“ Zweiker spricht sich für eine „bessere und treffsicherere Korrelation zur vorhandenen Qualifikation – Ultraschall, Zusatzausbildungen, DMP … – und zur erbrachten Leistung“ aus.
Kein Problem können die steirischen ÖGK-Spitzen Harb und Harrer orten: „Die Verdienstmöglichkeiten durch einen Kassenvertrag sind gut. Beispielsweise erwirtschaftet eine Hausarztpraxis mit allen Kassenverträgen in der Steiermark im Durchschnitt einen Umsatz von ca. EUR 300.000,–, sodass nach Abzug von Sozialversicherung und (Personal-)aufwendungen von einem Einkommen vor Steuern in der Höhe von rund 140.000 Euro bei einer Vollzeittätigkeit ausgegangen werden kann. Dies geht leider immer wieder in der Diskussion um Einzeltarife unter. Abhilfe könnten pauschale Honorierungssysteme mit Grund- und Fallpauschalen schaffen.“
Ein Ja zu besserer Bezahlung kommt von Smolle, „allerdings“ – so schränkt er ein – „in erster Linie mit dem Ziel der Ausgewogenheit der Verdienstmöglichkeiten im öffentlichen Krankenhaus und im kassenärztlichen Bereich im Vergleich zur Privatmedizin“. Die sei „einer der wesentlichen Hebel, um der Entwicklung einer Zweiklassen-Medizin entgegenzusteuern“. Ein uneingeschränktes Ja zu besserer Bezahlung kommt hingegen von Spitalsarzt Posch.
Konkret wird der Allgemeinmediziner und amtierende steirische Kurienobmann der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, Christoph Schweighofer: Die Honorare von Kinderärzt*innen müssten denen der Internist*innen angepasst werden; Kassengynäkolog*innen müssten so gut honoriert werden, dass sie locker das Einkommen wahlärztlich tätiger Kolleg*innen erreichen. Kassenärztlich tätigen Allgemeinmediziner*innen müssten die gleichen finanziellen Zuschüsse gewährt werden, wie sie für eine PVE vorgesehen sind. Die Fortzahlung eines Basisbetrages im Krankheitsfall oder Urlaub müssen ebenfalls umgesetzt werden.
Moussa nennt die „Attraktivierung der Allgemeinmedizin/PV („Fach“-Ärztin/-Arzt für Allgemeinmedizin), Zusammenarbeitsformen und Honorarmodelle ohne Limite und Degressionen, Definition des Leistungsspektrums sowie moderne medizinische Leistungen – etwa Sonographie und POC-Diagnostik – als notwendige Schritte in der Allgemeinmedizin. Zudem verlangt er „Schwerpunktmaßnahmen bei den primärversorgenden Fächern Gynäkologie und Kinder- und Jugendheilkunde sowie dringliche Tarifanpassung der Impf- und MKP-Tarife“.
Vor allem für die hausärztliche Primärversorgung wäre eine bessere Honorierung entscheidend, ist Brodnig überzeugt. Derzeit würden „nicht einmal alle essentiell notwendigen Untersuchungen – EKG, Blutbild, CRP, D-Dimer – zur Notfalldiagnostik oder zur gezielten Antibiotikatherapie österreichweit einheitlich vergütet“.
Sacherer verlangt „eine national wettbewerbsfähige und marktkonforme Bezahlung“ – im Spital genauso wie in der Niederlassung.
Lindner hält die bessere Honorierung bzw. Entlohnung ebenfalls für „dringlich“. Und ergänzt: „Jeder Gesundheitsökonom weiß, jeder Politiker ahnt, dass unkoordiniert im System umherirrende Patienten teuer und belastend sind.“ Eine Patientenstromsteuerung sei daher unumgänglich. Nachsatz: „Jedoch fehlt der Politik der Mut, dieses Problem anzupacken.“
Eine Verbesserung der Rahmenbedingungen ist – wenig überraschend – für alle sinnvoll. Aber was ist darunter zu verstehen?
Flexiblere Arbeitszeiten
Flexiblere Arbeitszeiten sind für Rabady und Poggenburg „insbesondere im Hinblick auf Work-Life-Balance und Familien“ wesentlich. Sie würden aber auch „für ältere Kolleg*innen zunehmend interessant“.
Höhere Flexibilität halten sie „bei der Gestaltung neuer Zusammenarbeitsformen im Primärversorgungsbereich abseits der strikten Modelle von PVEs und Netzwerken“ für wünschenswert. Dafür sollte es auch „deutlich mehr Unterstützung seitens der Sozialversicherungsträger in der Umsetzung und Ermöglichung solcher an die regionalen Gegebenheiten und Versorgungsnotwendigkeiten angepassten bottom-up-gestalteten Modelle geben“. Dazu sollte auch die Schaffung einer eigenen Anlaufstelle für interessierte Kolleg*innen gehören.
Für den Bereich der Landeskrankenhäuser und sonstigen Fonds-Spitäler verlangt Sacherer nur mehr „freiwillige Nachtdienste“ ab dem Alter von 60 Jahren. Als Betriebsratsvorsitzender hat er das im Bereich der Medizinischen Universität Graz bereits erreicht. Es ist also möglich. Ein unbedingtes Ja zu mehr Flexibilität kommt auch von Gerhard Posch. Ebenso sieht Smolle darin eine Chance „in erster Linie als flexible Kooperationsmodelle im niedergelassenen kassenärztlichen Bereich: Anstellung von Ärzt*innen bei Ärzt*innen, Gruppenpraxen, Jobsharing, Teilzeitlösungen, Primärversorgungszentren und -netzwerke“. Für Glehr ist das „sicher sinnvoll“, es wären aber Organisationsprobleme zu lösen. Insbesondere sei die Arbeitsleistung im stationären Bereich neu zu denken: „Dass alle Arbeit am Vormittag zu verrichten ist, könnte sicher hinterfragt werden.“
Harb und Harrer halten viele Probleme für bereits gelöst: „Einzelkämpfertum in einer Kassenpraxis muss nicht mehr sein.“ Mittlerweile gebe es verschiedene Modelle: Gruppenpraxen, Primärversorgungseinheiten, Erweiterte Stellvertretung, Jobsharing, Nachfolgepraxen. Seit Oktober 2021 sei in der Steiermark auch die Anstellung von Ärzt*innen in Ordinationen möglich. Somit sei eine Kassenpraxis mit Familienleben und Teilzeittätigkeit vereinbar. Diese Modelle müssten in Zukunft bedarfsgerecht weiterentwickelt und angepasst werden.
Erreichbarkeit
Harb/Harrer verweisen auf bereits Erreichtes: Die Verlegung des Lebensmittelpunktes sei keine Voraussetzung für die Führung einer Kassenpraxis. Auch die meisten Orte in peripheren Regionen wären vom Großraum Graz verkehrsmäßig gut erreichbar.
Rabady und Poggenburg wenden dagegen ein, dass es „gerade in abgelegenen Gebieten Österreichs, von denen es eine große Anzahl gibt“, sicher notwendig sei, Maßnahmen zu setzen, die die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes erleichtern. Zu bedenken sei aber auch, dass eine zunehmende Zentralisierung medizinischer Versorgung (Zusammenlegung von Krankenhäusern, größere ambulantere Einheiten) auch dazu führte, „dass unsere Patient*innen – besonders ältere und sozial Schwächere – uns nicht mehr ausreichend gut erreichen können“.
Auch Sacherer hält Erreichbarkeitsprobleme für relevante Hemmnisse und ist davon überzeugt, dass es konkreter Lösungen vor Ort bedürfe.
Kinderbetreuung
Für Smolle ist eine arbeitszeitkonforme Kinderbetreuung „ein wichtiger Punkt zur Attraktivierung der Arbeit, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer, die sich zunehmend ebenfalls ihrer familiären Aufgaben bewusst werden“.
Auch für Rabady und Poggenburg ist die Lösung des Kinderbetreuungsproblems „immens wichtig für Ärztinnen UND Ärzte und sicher ein hoher Attraktivitätsfaktor für einen Standort“.
Ebenso betrachtet Posch eine angemessene Kinderbetreuung als notwendig. Für Sacherer sind an die Arbeitszeit angepasste Kinderbetreuungsangebote ebenfalls „unbedingt“ erforderlich. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie werde in Zukunft eine deutlich größere Rolle spielen, ergänzt Meister. Viele europäische Staaten würden bereits zeigen, wie es gehe. „Der Aufholbedarf in Österreich ist diesbezüglich enorm“, sagt er.
Online-Angebote
Hier geht es einerseits um die auch telemedizinische Versorgung von Patient*innen und andererseits um Online-Fortbildungsangebote. Für Smolle sind mehr Online-Angebote zwar wünschenswert, aber sie würden die Probleme „nicht entscheidend lösen können“.
Harb und Harrer sind dagegen der Meinung, dass Digitalisierung in der ärztlichen Versorgung in der Zukunft forciert werden müsse. Erste Beispiele der ÖGK seien die telemedizinische Behandlung (visit-e) und das Pilotprojekt Teledermatologie in den Bezirken Liezen und Leibnitz. Diese dienten sowohl dem Service an den Patient*innen als auch der Entlastung der Ärzt*innen.
„Der Ausbau von E-Healthangeboten müsse nicht zwingend zu einer Attraktivierung führen, sondern könne auch einen ‚aufreibenden’ Mehraufwand bringen“, wendet Schweighofer ein. Spezifische Angebote wie die Kontrolle des Zucker-Tagesprofils, Blutdruck-Protokoll o. Ä. auf Anfrage zu jeder Tages- und Nachtzeit würden eine Rund-um-die Uhr-Verfügbarkeit für die Patient*innen suggerieren.
Online-Angebote müssten jedenfalls „qualitätsgesichert und zertifiziert“ sein, verlangt Lindner. Jedes Online-Angebot, das von der Öffentlichen Hand oder der Sozialversicherung bezahlt werde, müsse „einen Nutzen-Nachweis erbringen, wie es bei Medikamenten der Fall ist“.
„Mehr Online-Angebote bei überregionalen Fortbildungen der Ärztekammer“ will Zweiker als Service für die Ärzt*innen.
Postpromotionelle Ausbildung
Der Ausbau gezielter postpromotioneller Ausbildung ist für Zweiker „jedenfalls sinnvoll und wichtig“ und eine spezifische Ausbildung für die angestrebte spätere berufliche Position „definitiv notwendig“. Als Beispiele nennt sie für den Bereich der niedergelassenen Allgemeinmediziner*innen Praxismanagement und -organisation, Anforderungen im Rahmen eines Hausbesuchs, Nutzung des orientierenden Ultraschalls, POCT-Labordiagnostik, Risikostratifizierung von Patient*innen, Vermeidung der Polypharmazie bei gleichzeitiger Verhinderung der therapeutic inertia, eventuell Hausapothekenmanagement, diverse Ansuchen, Dokumentationen und vieles mehr. Bewährt hätten sich die Hybrid-Formate der Fortbildung.
Das Interesse für Allgemeinmedizin müsse „schon im Studium geweckt und das Image der Allgemeinmedizin vor allem bei fachärztlichen Kollegen verbessert werden“, sagt Schweighofer. Lindner will den Ausbau der Lehrpraxis und Mentoring-Programme. Posch verlangt die Förderung von Pflichtfortbildungen durch die Träger im Spitalsbereich.
Schweighofer weist auch auf die Unterstützungsmöglichkeiten der Gemeinden „in allen Bereichen“ hin wie leistbare Ordinationsräumlichkeiten, adäquate Arbeitsplätze für Partner*innen, Kinder-Betreuungsplätze, das Angebot von Wohnmöglichkeiten, etwa durch die Zurverfügungstellung eines Baugrundes und Hilfe beim Eigenheimbau, um Ärzt*innen an eine Region zu binden und dort zu halten.
Meister adressiert „die Wertschätzung des Arztberufes bei den Systempartnern“. Solange Ärzt*innen als Kostenverursacher*innen gesehen werden und nicht als unersetzbarer Beruf im Gesundheitswesen, werde sich an der Abwanderung nichts ändern. Abseits aller Probleme bemüht Smolle sich um einen positiven Zugang: „Ärztin/Arzt ist ein wunderbarer, verantwortungsvoller, höchst angesehener Beruf mit in der Regel sicherem Arbeitsplatz, verlässlichem Einkommen und guter Zukunftsperspektive. Wir sollen und werden alle unseren Teil dazu beitragen, das berufliche Umfeld weiter positiv zu entwickeln.“
Um Ärzt*innen nach dem Studium für die Gesundheitsversorgung zu erhalten, sei es auch wichtig, „die Jüngsten zu entlasten“, etwa dadurch, dass die Arztprüfung günstiger wird, sagt Sacherer.
Moussa nennt ganz grundsätzlich die „engere Kooperation zwischen intra- und extramuralem Bereich sowie ergänzenden medizinischen Angeboten (Rettungs- und Ärztenotdienst, Sanitätsbehörden, NGOs …), um eine optimale entlastende Verschränkung in allen Bereichen und mehr Arbeitszufriedenheit und Resilienz zu erzielen“, als Mittel gegen den Ärztemangel. Posch sagt aus spitalsärztlicher Perspektive, dass es notwendig sei, „Ambulanzen durch Stärkung des niedergelassenen Bereiches zu den Randzeiten und Wochenenden zu entlasten“.
Lindner fordert generell „mehr Kooperation und Ehrlichkeit in der Gesundheitspolitik“. Dazu gehöre auch eine „ehrliche Einbeziehung der Systempartner in die Entscheidungsprozesse“.
Wie bekämpft man den Ärztemangel?
Andrea Siebenhofer-Kroitzsch hat gemeinsam mi Florian L. Stigler, Carolin R. Zipp, Klaus Jeitler und Thomas Semlitsch erforscht, welche Methoden zur Bekämpfung des Ärztemangels international diskutiert werden. Das Ergebnis wurde 2021 im Journal Family Practice veröffentlicht.
Es ging – angesichts des Autor*innen-Teams und des Journals nicht überraschend – nur um den Mangel an niedergelassenen Allgemeinmediziner*innen. Die Studie bewertete die Maßnahmen nicht, sondern ging der Frage nach, welche in der wissenschaftlichen Literatur behandelt wurden. Zehn Maßnahmenkataloge (Policy Documents) und 32 Überblicksarbeiten wurden herangezogen.
12 (11,8 Prozent) der Maßnahmen widmeten sich dem Universitätszugang, 11 (10,8 Prozent) der universitären Ausbildung, 17 (16,7 Prozent) der postpromotionellen Allgemeinmedizin-Ausbildung, 25 (25,5 Prozent) der Arbeitserfahrung in der Allgemeinmedizin, 12 (11,8 Prozent) der Funktion der Politik, 8 (7,8 Prozent) den Rekrutierungsproblemen, 10 (9,8 Prozent) der Produktivitätssteigerung und 6 (5,9 Prozent) der Erhöhung der Zahl der Allgemeinmediziner*innen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Thema in vielen Staaten auf der Agenda steht und es ganz offensichtlich die eine alle Probleme lösende Maßnahme nicht gibt.
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